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Webster's Online Dictionary

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Archive for May, 1991

Schon lange wollte ich wieder mal ein Buch lesen, ein richtiges Buch sollte es sein: Ein Buch von Liebe, von Treue, von Punkern und Poppern, von Hunden – und von Kindern, ein Buch mit träumerischen Realien gegen realistische Träumereien, mit einer Utopie, mitten auf der Münchner Freiheit, und doch außerhalb der Kultur, ein Buch mit Jesus und antiken Göttern, mit Kasperltheater und Penthouse, Ritterschloß, U-Bahn-Schacht und Dominus-flevit-Kapelle, ein Buch wie ein Jahrmarkt, ein Romantheater – und doch irgendwie das einzig wahre: das Leben. Und dann war’s doch Das Falsche Buch. Von Paul Wühr. (Fischer TB 5944).

Es fällt ja immer schwerer zu schenken. Wo ist noch übriger Platz? Oh, dieses Elend, nicht mehr zu wissen, was wünschen. Satt und bedürftig hieß mein Zustand, als ich mir, nach Wünschen befragt, auf Weihnachten eine Ratte wünschte. Eine weibliche sollte es sein. Doch bitte keine weiße mit roten Augen, keine Laborratte bitte, wie sie bei Schering und Bayer-Leverkusen in Gebrauch sind. Ich hatte meinen Wunsch annähernd vergessen, als mich am Heiligen Abend die Rättin in ihrem Käfig überraschte. Ich sprach sie an, töricht. Ihre Witterhaare nehmen mich wahr. Schluß! sagt sie. Euch gab es mal. Gewesen seid ihr, erinnert als Wahn. Nie wieder werdet ihr Daten setzen. In Zukunft nur Ratten noch. Anfangs wenige, weil ja fast alles Leben ein Ende fand, doch schon vermehrt sich die Rättin erzählend, indem sie von unserem Ausgang berichtet. Mal fistelt sie bedauernd, als wolle sie die jüngsten Würfe lehren, uns nachzutrauern, mal höhnt ihr Rattenwelsch, als wirke Haß auf unsereins nach: Weg seid ihr, weg! – Sie spielt mit meinen Ängsten, die ihr handlich sind: Endzeitbeschwörung à la Günter Grass, Die Rättin. (rororo 12200).

Dear Doosie, warum ich Sie Doosie nenne, fragen Sie? Well, my dear, don’t you understand German – verstehen Sie denn kein Deutsch? I am calling you Doosie, weil ich noch nicht recht weiß, ob ich Du oder Sie zu Ihnen sagen soll. Deshalb. That’s why. “… ob ich Du oder Sie …” Könnten Sie mir bitte einmal ganz schnell dieses “ob” übersetzen? Gut! (bzw.:) Schlecht! Nicht if, sondern whether, ausgesprochen wie weather, Wetter. Womit wir unsere Unterhaltung sehr englisch angefangen haben, mit Wettergeschwätz.

Und dann legt er los. Er?: Sie könnten mich etwa – das wäre übrigens sehr englisch – nur mit dem Anfangsbuchstaben meines Vornamens anreden, with my initial, W. Dieses W dann aber bitte meinem englischen Paß zuliebe englisch aussprechen: “double you”, doppelt Du-Sie.

W – double you – ist gebürtiger Berliner, mußte als Jude 1933 Deutschland verlassen, ging nach Spanien, dann nach England, wurde politischer Sachberater bei den Briten und Amerikanern. In die Bundesrepublik zurückzukehren gelang ihm lange nicht; in Schweden arbeitete er als Druckereikorrektor und wurde immer mehr zum Sozialfall, ging am Exil fast zu Grunde, litt am Verlust seiner Sprache – und bringt dann 1977 seine Doosie-Liebesbriefe heraus, spritzig, frisch, humorvoll – und ernst zugleich. Dear Doosie. Eine Liebesgeschichte in Briefen. Auch eine Möglichkeit, sein Englisch spielend aufzufrischen. Von Werner Lansburgh. (Fischer TB 2428).

Alvier ist ein Berg, irgendwo in der Ostschweiz, 2345 Meter hoch. Und wo hohe Berge stehen, sind tiefe Täler, wo die Enge, die Ausgeschlossenheit, die Vereinsamung brüten, wo Utopien keinen Platz haben, wo sich Hoffnung und Verzweiflung in einem dürren Schweigen vereinen. Franz Böni schreibt Erzählungen, um an seinem aufgestauten Mitteilungsbedürfnis nicht krank zu werden. Und so handeln seine Texte von der Einsamkeit, der Abgeschiedenheit. Wie sie in diesen Gegenden entstehen muß. Und wie sie in den Fabriken rund um Winterthur, im Zürcher Oberland, in der Ostschweiz gezüchtet wird. Ob die Leute daran zu Grunde gehen? Böni läßt das Schicksal seiner Gestalten offen. Irgendwo bleiben die Geschichten auf der Strecke, lassen Verwirrung zurück; Fragen … Alvier. Von Franz Böni. (edition suhrkamp 1146).

Es gibt horizontales und vertikales Reisen. Das horizontale Reisen erweist sich in flächen- und raumdeckender Fortbewegung unter stetigem Wechseln des eigenen Standorts in bezug auf Längen- und Breitengrade. Es verläuft zweidimensional ohne Furchen in der Welt oder bei den Reisenden zu hinterlassen. Vertikales Reisen hingegen – obwohl es in der Folge vom horizontalen Reisen auftreten kann – findet an jedem beliebigen geographischen Ort statt, erhebt sich raketengleich in den Himmel, grüßt die Götter und die Sterne, oder lotet in Tiefen des Untergrunds und der Seele, wohin uns die Schulweisheit nie ein Ticket ausstellen würde. Berichte aus dem Überall – Guten Abend, hier ist das Morgenland – Die Phantastische Produktionsweise – Auseinandersetzung mit fremden Kulturen, oder schließlich doch mit der unseren? Micky Remann: Der Globaltrottel. (Rotbuch 296).

Du kommst herein. Wie die Tür hinter dir ins Schloß schwingt, gleitet dein Blick die Stufen hinunter, nach vorn, zur Tafel. Du stehst oben – hinten. Die andern: drei, vier, einige sind schon da – sitzen den Rücken zu dir. Nur das Schnallen des Schlosses verrät dein Erscheinen. Denn dich reinkommen sehen können sie nicht. Außer wenn einer vor Langweile den Kopf dreht. Aber das tun sie nicht. Sie sind beflissen, lernhungrig, wissensdurstig. Und arbeitsam. Sie tragen in Koffern, Taschen, Mappen die Bildung mit sich herum. Und all das, was sie gedenken, in ihre Köpfe rein-zutrichtern – wenn du fragst, will es keiner gewesen sein.

Du setzt dich. Hinten. Auf einen Tisch, keinen Schultisch, einen richtigen Tisch – beinahe richtig: stapelbar, dank klapp-baren Beinen. Noch hat sich nichts verändert. Das Brummsen der Stimmen ist nicht lauter geworden. Wenn du möchtest, könntest du sie hören, die andern, könntest du ihre Gespräche belauschen, mitdenken, dich einer intellektuellen Anstrengung bequemen. Doch du tust es nicht. Du bist zu träge dazu. Gefangen von der Trägheit des Raumes, dieses dreidimensionalen Ungetüms, dessen Bestimmung das Trichtern, das Eintrichtern ist, dessen Lebenszweck die Existenz einer Lehranstalt zu erhal-ten ist – einer hoch-eidgenössischen. Du sitzt da, und du spürst, jetzt mußt du schreien, fluchen, mit den Fäusten den Tisch zertrümmern, die Tafel – weit vorn – verschmieren mit Kreidesprüchen, obszönen – bon mots einer andern Dimension. – Und doch geschieht nichts, nichts, …

Die Trägheit hat gesiegt; die Trägheit, dieses unheimliche Attribut des Saales, zwingt dich jedesmal in ihren Bann, kaum hast du die Schwelle überschritten. Noch hast du nichts gegessen, heute. Immer noch sitzt du auf dem Tisch mit den klappbaren Beinen, dessen Stapelbarkeit ihn verwandt macht mit den andern. Stapelbar, endlos reproduzierbar, gleichsam Inkarnation der technischen Norm.

Du kämpfst deinen Kampf allein, un-verstanden, abgesondert. Nur der Tisch – stapelbar – ist dein Fixpunkt in dieser Einöde: Er ist der einzige stapelbare Tisch in diesem Raum…

Du denkst, du kannst aufstehen, hinaus, zurückgehen, von wo du gekommen bist. Doch du hast es vergessen. Mit unsichtbaren Fäden bist du gebunden an diesen Saal, an diese Trägheit, gegen die anzukämpfen vergeblich ist. Und doch tust du es. Du versuchst, sie zu überwinden. Weißt du denn nicht, daß das nicht geht.

Du ißt dein Brot. Mit Schinken. Und Gurken. Lustlos. Du trinkst deine Cola. Aus der Dose. Lustlos. Und du siehst, wie sich die andern vermehren. Einzeln, in Gruppen kommen sie zur Tür herein. Und suchen und finden einen Platz. Irgendwo in der Einöde, die sich vor dir ausstreckt. Und sie gehen in sie ein, verschwinden. Und sie bauen eine Masse, die sich vor dir aufbaut. Du siehtst, wie sie dich anschauen, wenn sie hereinkommen. Du siehst sie eintauchen in die Masse, die sich aufbaut. Aufplustert – ! Und du weißt jetzt plötzlich: das ist die Trägheit, so sieht die Trägheit aus. Sie hat kein Gesicht und viele Gesichter. Sie hat keinen Mund und viele Stimmen. Du hörst sie, du kannst zuhören, denkst du. Aber das geht nicht. Das kann nicht gehen, du weißt es. Und du versuchst es doch. Aber die Trägheit hält dich gefangen. Du bist wie eingepappt in Gelatine. Du fühlst es. Du weißt es.

Nichts hat dir dagegen geholfen, es gibt keinen Ausweg. Du setzt dich hin, und du beginnst zu schreiben – langsam wird dir anders: wie du schreibst, füllt sich die Masse. Sie wird dick und breit und groß. Und du spürtst, wie du aufgesaugt wirst. Wehrlos, regungslos – aufgesaugt, eingeschlürft in die Masse. Du siehst, wie du verschwindest. Ausgelöscht als Individuum. Verschwunden aus deiner Realität … Eingegangen in die Masse. Nicht mehr existent. Nur der Tisch steht noch da – mit den klappbaren Beinen.