'AMIV Blitz'
Morgens. Endlich ist er fertig, der Blitz. Du auch. Elf Seiten redaktionelle Arbeit, ein Inserat. Und in vier Stunden holt der Drucker die Vorlagen. Druckfehler siehst du eh seit drei Stunden keine mehr, bleibt noch das Editorial. Wieder einmal hat die harte Realität die Ideale eingeholt. Überholt. Schließlich hast du deinen Ehrgeiz. Und wozu wärst du sonst “Editor in charge”. Leitartikel und Aufreißer. Morgens um drei? Wie willst du da noch irgendwen irgendwie irgendwo aufreißen? Mit irgendwelchen faden Textlein. Zum Glück hat sich der Inhalt gewaschen. Denn der Blitz soll ja weh tun. Entweder dem Leser – wie heute. Oder dir – wenn du dir alle Artikel selbst aus dem Daumen saugst. Doch heute: Glück gehabt.
Danke Gott – und allen Textern!
Als Gott an jenem sechsten Tage die Welt erschaffen hatte und sich sinnend über das große Werk in seinen güldenen Thron zurücklehnte, sah er, daß es gut war: Er könnte sich getrost zur Ruhe setzen. Doch kaum war eine Zigarre angebrannt, der heilige Petrus, der damals noch gar nicht heilig war, zum Golf geladen (vielleicht würfelten sie auch nur, wer weiß), begannen Adam, Eva und die Schlange – niemand wollte es zum Schluß gewesen sein – das einzige Verbot, das Gott gesetzt, zu übertreten. Für einen solchen Sündenfall gerüstet – denn ER sieht für die Pannen vor – verbannte er die Ahnen unseres Geschlechts aus seinem Paradies. Nicht ohne ihnen einen Auftrag mitzugeben: seid fruchtbar und mehret euch. Und seither rackert sich die Menschheit ab, vermehrt sich, baut Äcker, Häuser, Banken, Polizeipräsidien. Und macht fortan Gesetze selbst: einmal, um sich vor Dieben, Bösewichten selbst zu schützen, ein andermal die Gauner vor der Willkür der (eigens dafür geschaffenen) Jusitia.
Doch – wie bereits schon biblisch zu berichten ist – ersinnt der Mensch sich neue, irdische Genüsse: Noah gilt zu Recht als erster Winzer der Geschichte, das Rauchen wird sich bald als weitverbreiteter Genuß gefunden haben. Und das mit den Frauen – hat uns Gott befohlen.
Jedoch, im Lauf der Zeit, – und wir wollen jetzt mal von der Kirche gehörig absehen – finden sich bald hier, bald dort, bald überall griese Zeitgenossen, die uns die kleinen Freuden unseres Erdendaseins wohl mißgönnen. Früher nannte man sie Temperenzler. Und achtete nicht darauf. Doch heute: trink du mal ein, zwei Bier, nach Feierabend oder so – schon bald bist du ein Alkoholiker, suchtkrank. Und gesellschaftlich dazu verdammt, an Leberzirrhose zu verrecken. Keinen Deut besser soll’s den Rauchern gehen: Lungenkrebs heißt das Verdikt. Und bald schon ist Rauchen allüberall verboten. Die Freude an den Frauen nehmen uns Aids und Emanzen im Verein.
Ein Glück, gibt’s da die Modeschöpfer, die diesen Sommer – Leggings propagierten. Und im Winter soll’s im gleichen Stile weitergehen. Doch halt (der Doktor hebt den Zeigefinger): Allergien auf Textilfarben, gefördert durch die eng anliegenden Kleider, sollen diesem Lichtblick schnell und schmerzhaft ein Ende bereiten; aus ist’s mit der Lust auf lange Beine…
Die Schweiz besitzt – Gott sei’s gedankt – ein Parlament, das nun zum nächsten Jahr die Spielclubs wieder dulden will. So hat der Schweizer doch noch eine Freude – und nützt dabei ganz insgeheim der Rüstung und – vielleicht – der AHV.
Da, wo sich heute kunstbegeisterte Dämchen und Herrlein ab und an zu Schampus und Whiskey ein smalltalkendes Stelldichein geben, umrahmt von den grauslichsten Exponaten moderner Kult- und Kulturprodukte, tummelten sich früher mal die kunstbeflissenen Eleven der staatlich-preußischen Kunstakademie. Die Säle rund um dieses Museums-Café – so laß’ ich mir den Zeisig weitererzählen – müssen sich also allerlei Scheußlichkeiten gewohnt sein; ganz zu schweigen von alledem, was diese Mauern wohl zu Gesicht bekommen haben – hier nimmt er einen tiefen Schluck und wird ganz ernst, kriegt Furchen auf der Stirn, und ich muß mich tummeln, ihn sein Glas leeren zu lassen, um es gleich wieder zu füllen, eh’ er mir unter der Feder sozusagen verblaßt: was diese Mauern im Reich zu sehen bekommen haben… von diesen Scheußlichkeiten wollen wir ganz schweigen.
Und wie um ernst zu machen mit dem Schweigen, wendet der Zeisig sich halb ab und blickt betrüblich auf einen Punkt, irgendwo drüben, an der andern Seite des Innenhofs. So laß’ ich mich mein Glas erheben: Wir wollen doch, so laß’ ich mich sagen, trinken auf die Errungenschaften der modernen Kultur.
Ja, trinken wir. Trinken wir auf diese neuen Verfehlungen menschlichen Geistes, der Zeisig: Die kosten keine Menschenleben, und es ist jedem freigestellt, ob er si sich zu Gemüte führen will. Doch laß’ er’s lieber bleiben, halb spöttisch zu mir: Diese Mutterstadt, Metropolis – früher durfte man noch Bilder malen, Skulpturen schlagen. Heute muß es immer gleich eine Installation sein, Happening mit Weingläsern und gelockten Korkenziehern. Und früher hatten die Produkte noch einen Namen: Mondlandschaft, kniender Mönch in Talaue. Singender Akt. Heute: eine drei Stockwerk hohe Kunststoffpuppe, wackelt andauernd mit dem Knie. An den Titel mag ich mich nicht erinnern. Umso mehr an jenen fantasievollen Raum im zweiten Geschoß. Sieht aus wie nach dem Krieg im Wachsfigurenkabinett. In der einen Ecke liegt ein abgetrennter Männerarm, hier hängt ein Torso, da ein Hintern – mit Notenlinien drauf. Alle drei: Kunstobjekte. Und kleine, weiße Schildchen verkünden: “Ohne Titel (Arm)”. Das zweite: “Ohne Titel (großer Torso)”, das dritte – “Ohne Titel (Hintern)”. Ja, es scheint so…
Was ich ihm genau erwidern sollte, war mir nicht recht klar – ich hatte die Dinger auch gesehen,
… doch noch besser wird’s – ein weiteres Glas unterstrich die Aussage – im Raum gleich nebenan. An der Tür ein geöffnetes Maschengittertor mit der bekannten gelben Plakette “high voltage – Lebensgefahr”. So spannend war’s dann auch wieder nicht: drinnen aus Baugerüst sowas wie ein Boxring aufgebaut, an den Wänden große, weiße Tafeln mit der Aufschrift “run” (dreimal) und “dog” (einmal). Und in einer Ecke des Raums in höchstens typographisch außergewöhnlicher Aufmachung: “why must I feel like that why must I chase this cat”. Und hier steht zu lesen: “(Titel nicht verfügbar)”.
Der Zeisig bemühte sich, Haltung zu bewahren, ein weiteres Glas wurde eingegossen, in einem Zug geleert und mit hellem Ton auf den schlanken Marmortisch geknallt. Wenn sich die eben nicht auf einen Namen einigen können, würde er sich der Musik zuwenden. Wer denn heut’ abend…?
Ich wagte es kaum zu flüstern: das Streichquartett “sine nomine”.
…
Das war zuviel, und nur noch der schale Geschmack des teuren Whiskey blieb zurück von Zeisig.
Sie kennen sich wohl, sagte der Zeisig. Besonders Jean, ein Winzling zwar, aber hart im Geben und zäh wie –
Welcher Jean, fragte ich dazwischen.
Der Zeisig: Sie haben noch nie Bekanntschaft gemacht mit ihm? Jean, Jean Hai ist , ja, er ist schon lange im Geschäft, Vorsitzender, seit dreien Jahren. Herr über Heerscharen aufrechter Mitglieder der Gesellschaft. Aber – und da tat der Zeisig einen tiefen Seufzer – aber auch er wird seinen Meister finden. Obwohl er ja im Grunde ein Menschenfreund ist. Ja, er liebt die Menschen –
Moment mal, warf ich ein, Sie sagen, er sei ein Menschenfreund. Sind Sie sich dessen so sicher – ich meine: …
Und ob ich mir dessen sicher bin, darauf der Zeisig! Hab ich nicht neulich mit ihm zusammengesessen? Hab ich nicht neulich mich mit ihm und allen seinen Freunden über die Freundschaft und die Freundschaft der Menschen im speziellen unterhalten? Bin ich nicht selbst ein rührendes Beispiel rührender Menschenfreundlichkeit?
Der Zeisig wurde ganz blaß vor Erregung, und wie er zu verschwinden drohte, hob ich gleich mein Glas, die Herren zu versöhnen und auf die Menschenfreundschaft des Herrn Hai anzustoßen zu lassen.
Der Zeisig tat dem Whisky ein Seines und hub an: Es ist tragisch, mein lieber Freund. Da sind so viele liebe Kerle, Streicher, Stadtstreicher, Landstreicher, die ich lieb gewonnen habe. Und ihr, ihr Menschen, ihr wißt nichts Besseres, als sie zu therapieren, sprich: zu vernichten. Zum Beispiel der goldgelockte Staphylococcus aureus. Schlimmstenfalls, wenn’s wirklich dumm gehen muß, strapaziert er eure Kieferhölen und Mittelohren. Oder der Salmonella choleraesius, der gar nichts mit Cholera zu tun hat, sondern nur etwas – man verzeihe mir die Untertreibung – typhöse Salmonellose bewirkt; die Shizella dysenteriae (bakterielle Ruhr, in Klammern anzufügen), – der Zeisig kam langsam in Fahrt – die Yersinia pestis, die den Menschen nichts weniger als die legendäre Pest gebracht hat. Wieviele Werke der Kultur wären nicht entstanden, ohne sie! Bakterien! Auch sie wollen nur leben. Was wißt ihr Menschen vom Lauf der Welt? Gerade soviel, uns zu vernichten. Und dazu verschleudert ihr Millionen und Millionen von eurem Geld, das euch doch so lieb ist. Nur –
Moment, mein lieber Zeisig, da mußte ich ihn unterbrechen, Sie müssen doch bedenken, daß für uns Menschen diese lieben Tierchen, wie Sie zu sagen pflegen, durchaus im wesentlichen unangenehme Folgen haben. Oder haben Sie Freude daran, wenn wir uns an Pest und Cholera zu Tode vergiften – aus einer verfehlten tierschützerischen Haltung heraus? Nur weil Sie diese Bakterien und Viren am Leben erhalten möchten? Und – bevor Sie mir ins Wort fallen – bedenken Sie: auch Sie würden nicht existieren, wenn es uns nicht gäbe. Sie wären nie geboren worden, und Sie würden auch nie ans Tageslicht treten!
Das stimmte den Zeisig traurig, sehr traurig. Er wurde ganz bleich und durchsichtig, und eh ich mich versah, war er in der Whisky-Flasche verschwunden, woher er gekommen war. Und kein noch so kräftiger Schluck mochte ihn wieder hervorlocken.
Er würde jetzt in der Zeitung eine Annonce aufgeben – oder noch besser ein richtiges, ganzseitiges, vierfarbiges Inserat. Schluß mit dem kleingewerblichen Dasein, es müsse endlich vorwärts – und vor allem: aufwärts gehen. Womit denn, wagte ich mich zu erkundigen, gleichzeitig wenigstens mit Mim- und Gestik mich entschuldigend, daß ich es überhaupt mir anmaßte, noch zu fragen, denn mein ziemlich guter Freund pflegt die Maxime, nichts zweimal zu erzählen, wenigstens nicht am gleichen Abend, zumindest nicht am gleichen Tisch, jedenfalls nicht bei der gleichen Flasche. Und da die erste, oder, was dasselbe sein könnte, den Sachverhalt mit großer Wahrscheinlichkeit aber besser traf, die letzte bereits so viel wie leer war, ließ sich schnell eine nächste hinzustellen, womit Zeisigs Maxime fürs erste Genüge getan war, so daß er anhub, erst das Glas, dann zu sprechen:
Ob es mir denn nicht auch aufgefallen sei; je mehr sich Psych- und Soziologen mit dem Thema beschäftigen würden, umso weniger sei Kommunikation noch existent in unserer Gesellschaft. Je mehr Technologie sie erleichtere, umso weniger sprächen die Leute noch miteinander. Ja es sei sogar schon so weit gekommen, daß er einen ganzen Abend mit sich und seinem Spiegelbild habe verbringen müssen. Und wie um es zu erhalten, schenkte er nach. Darum habe er also ein Geschäft gegründet, eine Firma. Er zei zum Unternehmer avanciert. Doh handle er nciht mit materiellen Gütern. Er bringe den Leuten das zurück, was sie mehr und mehr verlören dank der Bemühungen der Techniker und der Sorge der Psychologen. Er handle sozusagen mit Kommunikation.
An dieser Stelle muß ich wohl dem Zeisig etwas zu aufmunternd zugetrunken haben. Denn die Kommunikation der nächsten eineinhalb Stunden bestand in einer mittelschweren Vorlesung des Zeisigs über sein Tarifsystem, das er in stundenlangen Auseinandersetzungen mit sich selbst und Jakob Daniels entworfen hatte.
Leider ist mir davon nicht sehr viel geblieben, weshalb ich darauf verzichte, all die Einzelheiten wiederzugeben, wie Zeisig seine Kunden in Klassen einteile, deren primäres Unterscheidungsmerkmal die Quersumme der Buchstaben im Vornamen der Klienten sei, wozu er eine geigene, neue Algebra hätte kreieren müssen, denn es sei nicht möglich, die Buchstaben, so der Zeisig, mit herkömmlichen Mitteln korrekt quer zu summieren, so daß die Patienten – er wurde immer eifriger in den Bezeichnungen – auch in die richtigen Klassen eingeordnet würden, wohingegen, was mir zwar noch viel weniger einleuchtete, doch das sei gerade die Absicht dabei, wie mir der Zeisig versicherte, das zweite Kriterium streng medizinisch zu handhaben sei – er beurteile seine Kunden nach ihrer Farbfehlsichtigkeit. So könne er schließlich für jede Person das geeignete Kommunikationsprofil entwickeln und die richtigen Dienstleistungen anbieten.
Unterdessen bei der übernächsten Flasche angelangt, setzte er mir sein Spezialgebiet auseinander und dozierte, welche Vorteile runde Ecktische gegenüber eckigen Ecktischen mit runden Hockern hätten, und welchen Einfluß die Dicke des Tischblattes auf die Stimulation des Gesprächsverlaufs habe.
Mag es am Tischblatt gelegen haben, an den Sitzgelegenheiten, oder einfach am Einfluß des gülden schimmernden Getränks – die weiteren Differenzierungen der Marketingstrategie, der Produkt-Markt-Kombination und gar die Unique Selling Proposition des Zeisig zu rekonstruieren will mir nicht gelingen, so sehr ich meinen Kopf auch martere – wo er doch gemartert genug schon ist.
Einzig des Zeisigs Schlußsatz ist mir in Erinnerung beblieben, dass er nämlich jetzt ein Inserat aufgeben würde, viskiyim in großen roten Lettern drauf geschrieben, welch seltsames Wort mir seither im Kopfe geistert, ohne einen Sinn zu machen. Noch zwei, drei, viermal wiederholte er das Wort – und dann war er mit einem Mal verschwunden, eingegangen in der Geist der Flasche, aus der er entstieg.
Schon lange wollte ich wieder mal ein Buch lesen, ein richtiges Buch sollte es sein: Ein Buch von Liebe, von Treue, von Punkern und Poppern, von Hunden – und von Kindern, ein Buch mit träumerischen Realien gegen realistische Träumereien, mit einer Utopie, mitten auf der Münchner Freiheit, und doch außerhalb der Kultur, ein Buch mit Jesus und antiken Göttern, mit Kasperltheater und Penthouse, Ritterschloß, U-Bahn-Schacht und Dominus-flevit-Kapelle, ein Buch wie ein Jahrmarkt, ein Romantheater – und doch irgendwie das einzig wahre: das Leben. Und dann war’s doch Das Falsche Buch. Von Paul Wühr. (Fischer TB 5944).
Es fällt ja immer schwerer zu schenken. Wo ist noch übriger Platz? Oh, dieses Elend, nicht mehr zu wissen, was wünschen. Satt und bedürftig hieß mein Zustand, als ich mir, nach Wünschen befragt, auf Weihnachten eine Ratte wünschte. Eine weibliche sollte es sein. Doch bitte keine weiße mit roten Augen, keine Laborratte bitte, wie sie bei Schering und Bayer-Leverkusen in Gebrauch sind. Ich hatte meinen Wunsch annähernd vergessen, als mich am Heiligen Abend die Rättin in ihrem Käfig überraschte. Ich sprach sie an, töricht. Ihre Witterhaare nehmen mich wahr. Schluß! sagt sie. Euch gab es mal. Gewesen seid ihr, erinnert als Wahn. Nie wieder werdet ihr Daten setzen. In Zukunft nur Ratten noch. Anfangs wenige, weil ja fast alles Leben ein Ende fand, doch schon vermehrt sich die Rättin erzählend, indem sie von unserem Ausgang berichtet. Mal fistelt sie bedauernd, als wolle sie die jüngsten Würfe lehren, uns nachzutrauern, mal höhnt ihr Rattenwelsch, als wirke Haß auf unsereins nach: Weg seid ihr, weg! – Sie spielt mit meinen Ängsten, die ihr handlich sind: Endzeitbeschwörung à la Günter Grass, Die Rättin. (rororo 12200).
Dear Doosie, warum ich Sie Doosie nenne, fragen Sie? Well, my dear, don’t you understand German – verstehen Sie denn kein Deutsch? I am calling you Doosie, weil ich noch nicht recht weiß, ob ich Du oder Sie zu Ihnen sagen soll. Deshalb. That’s why. “… ob ich Du oder Sie …” Könnten Sie mir bitte einmal ganz schnell dieses “ob” übersetzen? Gut! (bzw.:) Schlecht! Nicht if, sondern whether, ausgesprochen wie weather, Wetter. Womit wir unsere Unterhaltung sehr englisch angefangen haben, mit Wettergeschwätz.
Und dann legt er los. Er?: Sie könnten mich etwa – das wäre übrigens sehr englisch – nur mit dem Anfangsbuchstaben meines Vornamens anreden, with my initial, W. Dieses W dann aber bitte meinem englischen Paß zuliebe englisch aussprechen: “double you”, doppelt Du-Sie.
W – double you – ist gebürtiger Berliner, mußte als Jude 1933 Deutschland verlassen, ging nach Spanien, dann nach England, wurde politischer Sachberater bei den Briten und Amerikanern. In die Bundesrepublik zurückzukehren gelang ihm lange nicht; in Schweden arbeitete er als Druckereikorrektor und wurde immer mehr zum Sozialfall, ging am Exil fast zu Grunde, litt am Verlust seiner Sprache – und bringt dann 1977 seine Doosie-Liebesbriefe heraus, spritzig, frisch, humorvoll – und ernst zugleich. Dear Doosie. Eine Liebesgeschichte in Briefen. Auch eine Möglichkeit, sein Englisch spielend aufzufrischen. Von Werner Lansburgh. (Fischer TB 2428).
Alvier ist ein Berg, irgendwo in der Ostschweiz, 2345 Meter hoch. Und wo hohe Berge stehen, sind tiefe Täler, wo die Enge, die Ausgeschlossenheit, die Vereinsamung brüten, wo Utopien keinen Platz haben, wo sich Hoffnung und Verzweiflung in einem dürren Schweigen vereinen. Franz Böni schreibt Erzählungen, um an seinem aufgestauten Mitteilungsbedürfnis nicht krank zu werden. Und so handeln seine Texte von der Einsamkeit, der Abgeschiedenheit. Wie sie in diesen Gegenden entstehen muß. Und wie sie in den Fabriken rund um Winterthur, im Zürcher Oberland, in der Ostschweiz gezüchtet wird. Ob die Leute daran zu Grunde gehen? Böni läßt das Schicksal seiner Gestalten offen. Irgendwo bleiben die Geschichten auf der Strecke, lassen Verwirrung zurück; Fragen … Alvier. Von Franz Böni. (edition suhrkamp 1146).
Es gibt horizontales und vertikales Reisen. Das horizontale Reisen erweist sich in flächen- und raumdeckender Fortbewegung unter stetigem Wechseln des eigenen Standorts in bezug auf Längen- und Breitengrade. Es verläuft zweidimensional ohne Furchen in der Welt oder bei den Reisenden zu hinterlassen. Vertikales Reisen hingegen – obwohl es in der Folge vom horizontalen Reisen auftreten kann – findet an jedem beliebigen geographischen Ort statt, erhebt sich raketengleich in den Himmel, grüßt die Götter und die Sterne, oder lotet in Tiefen des Untergrunds und der Seele, wohin uns die Schulweisheit nie ein Ticket ausstellen würde. Berichte aus dem Überall – Guten Abend, hier ist das Morgenland – Die Phantastische Produktionsweise – Auseinandersetzung mit fremden Kulturen, oder schließlich doch mit der unseren? Micky Remann: Der Globaltrottel. (Rotbuch 296).
Du kommst herein. Wie die Tür hinter dir ins Schloß schwingt, gleitet dein Blick die Stufen hinunter, nach vorn, zur Tafel. Du stehst oben – hinten. Die andern: drei, vier, einige sind schon da – sitzen den Rücken zu dir. Nur das Schnallen des Schlosses verrät dein Erscheinen. Denn dich reinkommen sehen können sie nicht. Außer wenn einer vor Langweile den Kopf dreht. Aber das tun sie nicht. Sie sind beflissen, lernhungrig, wissensdurstig. Und arbeitsam. Sie tragen in Koffern, Taschen, Mappen die Bildung mit sich herum. Und all das, was sie gedenken, in ihre Köpfe rein-zutrichtern – wenn du fragst, will es keiner gewesen sein.
Du setzt dich. Hinten. Auf einen Tisch, keinen Schultisch, einen richtigen Tisch – beinahe richtig: stapelbar, dank klapp-baren Beinen. Noch hat sich nichts verändert. Das Brummsen der Stimmen ist nicht lauter geworden. Wenn du möchtest, könntest du sie hören, die andern, könntest du ihre Gespräche belauschen, mitdenken, dich einer intellektuellen Anstrengung bequemen. Doch du tust es nicht. Du bist zu träge dazu. Gefangen von der Trägheit des Raumes, dieses dreidimensionalen Ungetüms, dessen Bestimmung das Trichtern, das Eintrichtern ist, dessen Lebenszweck die Existenz einer Lehranstalt zu erhal-ten ist – einer hoch-eidgenössischen. Du sitzt da, und du spürst, jetzt mußt du schreien, fluchen, mit den Fäusten den Tisch zertrümmern, die Tafel – weit vorn – verschmieren mit Kreidesprüchen, obszönen – bon mots einer andern Dimension. – Und doch geschieht nichts, nichts, …
Die Trägheit hat gesiegt; die Trägheit, dieses unheimliche Attribut des Saales, zwingt dich jedesmal in ihren Bann, kaum hast du die Schwelle überschritten. Noch hast du nichts gegessen, heute. Immer noch sitzt du auf dem Tisch mit den klappbaren Beinen, dessen Stapelbarkeit ihn verwandt macht mit den andern. Stapelbar, endlos reproduzierbar, gleichsam Inkarnation der technischen Norm.
Du kämpfst deinen Kampf allein, un-verstanden, abgesondert. Nur der Tisch – stapelbar – ist dein Fixpunkt in dieser Einöde: Er ist der einzige stapelbare Tisch in diesem Raum…
Du denkst, du kannst aufstehen, hinaus, zurückgehen, von wo du gekommen bist. Doch du hast es vergessen. Mit unsichtbaren Fäden bist du gebunden an diesen Saal, an diese Trägheit, gegen die anzukämpfen vergeblich ist. Und doch tust du es. Du versuchst, sie zu überwinden. Weißt du denn nicht, daß das nicht geht.
Du ißt dein Brot. Mit Schinken. Und Gurken. Lustlos. Du trinkst deine Cola. Aus der Dose. Lustlos. Und du siehst, wie sich die andern vermehren. Einzeln, in Gruppen kommen sie zur Tür herein. Und suchen und finden einen Platz. Irgendwo in der Einöde, die sich vor dir ausstreckt. Und sie gehen in sie ein, verschwinden. Und sie bauen eine Masse, die sich vor dir aufbaut. Du siehtst, wie sie dich anschauen, wenn sie hereinkommen. Du siehst sie eintauchen in die Masse, die sich aufbaut. Aufplustert – ! Und du weißt jetzt plötzlich: das ist die Trägheit, so sieht die Trägheit aus. Sie hat kein Gesicht und viele Gesichter. Sie hat keinen Mund und viele Stimmen. Du hörst sie, du kannst zuhören, denkst du. Aber das geht nicht. Das kann nicht gehen, du weißt es. Und du versuchst es doch. Aber die Trägheit hält dich gefangen. Du bist wie eingepappt in Gelatine. Du fühlst es. Du weißt es.
Nichts hat dir dagegen geholfen, es gibt keinen Ausweg. Du setzt dich hin, und du beginnst zu schreiben – langsam wird dir anders: wie du schreibst, füllt sich die Masse. Sie wird dick und breit und groß. Und du spürtst, wie du aufgesaugt wirst. Wehrlos, regungslos – aufgesaugt, eingeschlürft in die Masse. Du siehst, wie du verschwindest. Ausgelöscht als Individuum. Verschwunden aus deiner Realität … Eingegangen in die Masse. Nicht mehr existent. Nur der Tisch steht noch da – mit den klappbaren Beinen.